Freie Liebe
Wir brauchen eine gemeinnützige Dating-App

05 Apr 2024 by lab-cat

Online-Dating-Apps haben enorme gesellschaftliche Wirkmacht: 77% der deutschen Bevölkerung unter 30 nutzen Online-Dating, um Menschen kennenzulernen. Insbesondere Dating-Apps haben sich nach dem Aufstieg von Tinder 2013 in jüngeren Altersgruppen durchgesetzt. Dabei haben unterschiedliche Plattformen verschiedene Funktionen und Images, die sie für unterschiedliche Zielgruppen interessant machen: von unverfänglichen Freizeittreffen durch Meet5 bis hin zu schwulem Dating über Grindr und Allzweck-Apps wie Bumble und OkCupid, die eine breite Nutzer*innenschaft adressieren.

“Was willst du eigentlich wirklich?”

Was alle gemein haben: sie gehören privaten Firmen, die versuchen, mit dem Beziehungsbedürfnis ihrer Nutzer*innen Geld zu machen. Die Strategie aller großen Apps folgt dabei dem ‘freemium’ Modell. Nutzer*innen können die App dabei prinzipiell kostenlos nutzen. Allerdings bietet die App auch Zusatzfunktionen, häufig solche die einer Nutzer*in (vorgeblich) höhere Chancen zu einem Match verschaffen oder ihnen mehr Suchfilter zur Verfügung stellen. Diese werden hinter Bezahlschranken versteckt, normalerweise mit einem Abo-Modell, und finanzieren so den Betrieb und die Dividende. Die Apps stoßen Nutzer*innen immer wieder auf diese Limitationen, um sie zum Kauf der “Premiumfunktionen” zu bringen. Grundsätzlich haben die Plattformen also kein Interesse daran, dass ihre Nutzer*innen jemand passendes für eine langfristige monogame Beziehung finden. Und auch Beziehungsformen, die die Nutzer*innen nicht ‘vom Markt’ nehmen, sollten aus Sicht der Plattform möglichst nur zahlenden Nutzer*innen zuteil werden, da sonst kein Anreiz zum Kauf bestehen würde. Eine zufriedene Nutzer*in zahlt nicht. Plattformen müssen also eine möglichst hohe Frustration bei der Zielgruppe ihrer Premiumfunktionen hervorrufen, ohne sie zu verlieren. Bei Zeiten werden die Apps durch diese Anreizstruktur zu aktiven Kontakt-Verhinderungs-Plattformen, bei denen die (augenscheinlich) passendsten Kontakte nur angeteasert, ohne Bezahlung aber nicht hergestellt werden.

Dark Pattern Dating

Um die ideale Balance zwischen Verlangen und Unerreichbarkeit für die potentiell zahlende Nutzer*innengruppe herzustellen, wird das Nutzungserlebnis aller sehr genau kuratiert. Welche Profile überhaupt angezeigt werden, in welcher Reihenfolge sie auftauchen und wer als “besonders beliebt” markiert wird oder hinter einer Paywall versteckt wird, sind bewusste Entscheidungen im Interesse der Aktieninhaber*innen. Einige weitere manipulativen Techniken sind ansonsten vor allem aus der Spieleentwicklung bekannt, bspw.

  • Infinite Treadmill - das ‘Swipe Deck’ wird nie leer, sondern zur Not mit Menschen außerhalb des Suchradius aufgefüllt oder die Gleichen werden immer wieder angezeigt
  • Pay to Skip - viele Plattformen begrenzen die Anzahl der ‘Likes’ pro Tag für nicht-zahlende Nutzer*innen

All das sind Beispiele für medienpsychologische Tricks, sog. Dark Patterns, die gegen die Nutzer*innen eingesetzt werden um die Profitabilität der App zu steigern. Dies ist nie ethisch vertretbar, insbesondere da unsere heutige Gesellschaft nicht hinreichend über diese Mechanismen informiert und ihnen damit schutzlos ausgeliefert ist (Medienkompetenz und so). Verschlimmert wird die Situation aber noch durch den Umstand, dass sich einige Nutzer*innen von Dating-Apps, wie Stefan Schulz in Die Neuen Zwanziger, Folge 02/2024 bemerkt, in psychisch vulnerablen Zuständen befinden, bspw. nach einer Trennung oder mit einem niedrigen Selbstwert bzgl. Dating.

Unterdrückungsmechanismen digitalisiert

Wie Matches hergestellt werden ist offensichtlich zentraler Teil der Nutzer*innenerfahrung. Apryl Williams analysiert in ihrem Buch Not my Type das Patent der Match Group, die Firma hinter Tinder, OkCupid, Hinge und weiteren großen Marken, auf deren Matching Algorithmus. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Plattformen vermutlich einen ‘Elo Score’ oder ähnliche Systeme nutzen. Bei diesem simplen Verfahren, welches sonst ebenfalls in der Spieleentwicklung eingesetzt wird, wird eine eindimensionale Hierarchie aufgestellt, in diesem Fall bzgl. der Attraktivität. Offensichtlich ist die Konzeption eines Attraktivitäts-Scores genauso geprägt von (Dominanz-) Gesellschaftlichen Annahmen der Entwickler*innen wie die These, dass Menschen innerhalb “ihrer Liga” daten sollten. Williams beschreibt, wie dieser Mechanismus marginalisierten Gruppen (am meisten) schadet und die bestehende Gesellschaftshierarchie verstärkt. Tinder bestreitet, dass der Elo eine Rolle spielt, gibt aber nicht viel darüber hinaus zu seinem Matchingverfahren preis.

Williams beschreibt zudem einer Reihe weiterer Mechanismen der großen Datingplattformen, wie bspw. der Einschätzung von ‘Kompatibilität’ anhand von Bildanalyse und unzugängliche Meldemöglichkeiten, die sexualisiertem Rassismus Vorschub leisten und Weiße Vorherrschaft stärken.

Die Autorin fordert eine Integration marginalisierter Gruppen nach dem Ansatz Design From the Margins von Afsaneh Rigot, bei dem der Fokus auf die vulnerabelsten Nutzer*innen gelegt wird um die Sicherheit aller zu erhöhen.

zum Markt

Der Dating-App Markt ist für neue Anbieter*innen eigentlich ideal. Bei vielen Formen von Social Media, z. B. Chats und Kurznachrichten, wirken starke Zentralisationstendenzen, da sich prinzipiell alle mit allen unterhalten können wollen (“the Winner takes it all”). So würde ich mir von jeder Chat-App wünschen, in ihr sowohl mit meinen Eltern als auch mit Kommiliton*innen schreiben zu können und auf diesem Weg hält WhatsApp bis heute seine Vormachtstellung. Bei Dating-Apps gibt es hingegen nur eine kritische Masse an neuen Leuten, die ich über die App kennenlernen können muss. Es ist aber für die Funktion der App recht unwichtig, wie viele Nutzer*innen über diese kritische Masse hinaus die App nutzen (außer man unterstellt, dass der Algorithmus dann passendere Matches finden könnte). Zudem funktioniert Dating in relativ klar abgegrenzten demografischen und geografischen Segmenten, z. B. lesbisches Dating unter 40 in Leipzig. Daher reicht es für neue Marktteilnehmer, eine kritische Masse von Nutzer*innen innerhalb einer Gruppe von ihrer Plattform zu überzeugen, um für diese einen Mehrwert bieten zu können. Es gibt kaum zusätzliche Festigung der Vormachtstellung über ein bestimmtes Segment hinaus, weswegen diese ja auch immer wieder mit aggressivem Marketing abgesichert werden muss.

Lösungsangebot

Um die Dating-Plattform an den Bedürfnissen von Nutzer*innen auszurichten, braucht es nach meinem Dafürhalten eine gemeinwohlorientierte Institution, die zum Ziel hat, Fremde miteinander zu verbinden. Es existieren bereits funktionierende Beispiele für ähnliche Anwendung:

  • BeWelcome, eine Gastgeber*innenplattform (ähnlich zu Couchsurfing), wird von einer gemmeinnützigen Organisation aus Frankreich als freie Software betrieben und entwickelt und
  • WGcompany ist eine nicht-kommerzielle WG-Gesucht Alternative für Berlin.

Zudem sollten die Nutzer*innen realen Einfluss auf die technische und soziale Entwicklung ihrer Plattform nehmen können, bspw. wie Moderation organisiert wird und welche Vehaltensregeln gelten sollen. Um das zu ermöglichen sollten Communities eigene Plattformen betreiben, die zwar auf einer gemeinsamen Software basieren, aber von unterschiedlichen Stellen verwaltet werden. Ein Vorbild dafür könnte die Struktur des Fediverse sein, in dem viele Plattformen (Instanzen) von Privatpersonen für ihre Community oder Stadt gepflegt werden. So könnte die Hamburger Kink-Szene beispielsweise zusätzliche Filter zur Suche anbieten, damit sich passende Paare leichter finden. Queere Menschen aus Leipzig könnten gleichzeitig auf ihrer Plattform eigene Moderationskonzepte umsetzen oder Gruppenchats ermöglichen.

Die Software Alovoa ist eine freie open-source Dating-App unter aktiver Entwicklung. Allerdings ist sie nicht darauf ausgelegt, dass man mit der Software eine eigene Plattform betreiben kann, sondern ist stattdessen auf eine zentrale Plattform zugeschnitten. Der Quellcode müsste also modifiziert werden um eine Plattform von und für Menschen aus einer Nische aufzubauen anstatt die offizielle Website/App alovoa.com zu nutzen. Ein Grund für diese Entscheidung könnte sein, dass Nutzer*innen, die für die Entwicklung der Software spenden, Privilegien in der offiziellen Website/App erhalten. Mit laut eigenen Angaben ca. 40.000 Nutzer*innen ist die App bisher noch relativ klein. Einige Nutzer*innen gibt es aber auch bereits in Leipzig.

Ein paar Hürden für jeden Versuch Dating-Apps gemeinwohlorientierter zu machen, sind aber auch bereits absehbar. Dating Plattformen mit vielen Nutzer*innen brauchen starkte Moderation und diese Ehrenamtlich zu organisieren wäre eine Herausforderung. Darüber hinaus träten solche Organisationen natürlich in direkte Konkurenz mit etablierten und Milliarden-schweren Konzernen. Im Unterschied zu den Plattformen von Unternehmen wären aber die Interessen der Betreiber*innen und der Nutzer*innen endlich die selben und lokale Plattformen könnten sich in einzigartiger Weise und Geschwindigkeit den Bedürfnissen der Nutzer*innen anpassen. So lässt sich hoffen, dass sich Dating gemeinschaftlicher und freier organisieren lässt.

Abschluss

Am Anfang des Internet-Zeitalters wurde der damaligen Gesellschaft ein goldenes Zeitalter freier Kommunikation versprochen. Stattdessen manifestiert das derzeitige Modell kapitalistischer Plattformkonzerne die bestehende ungerechte Gesellschaftsstruktur. Letzendlich ist Dating zu wichtig, um die Details ein paar reiche weiße Männer in Kalifornien entscheiden zu lassen.


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